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Bilder aus der hannöverschen Naturgeschichte im 18. Jahrhundert

 

von Prof. Dr. Joachim Knoll

Aus: Bericht der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover, 149, Hannover 2007, S. 121–146.

 

Ob man vom Ende des 18. Jahrhunderts in Schritten von zehn Jahren zurückgeht bis zu seinem Anfang, als die Kurfürstin Sophie mit Gottfried Wilhelm Leibniz bei gelehrten Gesprächen im Großen Garten lustwandelte, Hinweise darauf, wie man sich in Hannover für Naturgeschichte interessierte und welche Erkenntnisse man dabei gewann, lassen sich in allen Jahrzehnten dieses Jahrhunderts finden. Es gab eine Kultur naturkundlichen Wissens, eingebettet in den historischen und sozialen Kontext der Stadt, die sich an Menschen und Situationen anschaulich machen lässt.(2) Dabei werden die Menschen, von denen hier die Rede sein soll, so wie es in ihrem Jahrhundert üblich war, als die Naturkundigen bezeichnet.(3) Zur Beantwortung der Frage, wer diese Naturkundigen in Hannover waren, ist dann aber dreierlei zu bedenken: Hannover war keine große Stadt, es gab keinen Hof und keine Universität.

1735 lebten in der Alt- und Neustadt 14.000 Menschen, und nach der Volkszählung im Jahr 1766 waren es 15.448 Einwohner in beiden Stadtteilen. Daran erinnerte der Geheime Kanzleisekretär Ernst Brandes seine Mitbürger:

„Hannover ist keine große Stadt, so sehr es auch der Eitelkeit der Einwohner schmeicheln mag für die Bewohner einer großen Stadt zu gelten“.(4)

Die Bevölkerungsentwicklung wurde zudem durch das eine oder andere „calamitöse“ Jahr spürbar gehemmt; 1766 war ein Blatternjahr, in dem an die 400 Kinder an den Pocken starben, und 1772 war ein Hungerjahr mit vielen Todesopfern besonders unter der ärmeren Bevölkerung.

Kurfürst Georg Ludwig (1660–1727) zog 1714 als englischer König Georg I. nach London und mit ihm ein Teil des Hofs. Hannover blieb zwar Residenzstadt, aber eine eher nachgeordnete, was sich für die Entwicklung der Stadt ebenfalls als hemmend auswirkte. Das Stadtschloss am Hohen Ufer und das Sommerschloss in Herrenhausen waren Schauplätze einer reduzierten Hofhaltung, Hannover trat ein in eine eher glanzlose und stille Zeit. Der Geheime Kanzleisekretär Brandes äußerte sich auch dazu:

„Auch in Rücksicht seiner politischen Lage kann Hannover nicht auf den Besuch so vieler Fremden rechnen wie manche andere Hauptstadt. Es ist hier, wie gesagt, kein Hof“.(5)

Gelegentlich besuchte der König seine Stammlande, aber das Kurfürstentum wurde maßgeblich von London aus regiert; und Georg III. fand kein einziges Mal einen Weg nach Hannover.

Die in Hannover anfallenden Regierungsgeschäfte besorgte ein meist aus Vertretern des alten Adels bestehendes Kollegium Geheimer Räte.(6)  Ihm zur Seite standen juristisch geschulte Beamte, Kanzleisekretäre bürgerlicher oder neuadeliger Herkunft. Der Verwaltungsapparat war auf sie angewiesen, sie bildeten eine gesellschaftliche Elite und mit ihren Familien die sogenannten hübschen Familien in der städtischen Gesellschaft und machten Hannover bei aller Enge zu einer durchaus lebendigen Stadt:

„Man hatte die höfische Etikette beibehalten, sich aber darin so gemütlich wie möglich eingerichtet. Für einen Angehörigen der ,hübschen Familien' ist das Leben in Hannover in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts durchaus lebenswert“.(7)

Hannover hatte keine Universität und Leibniz hielt die Stadt für keinen Ort besonderer Gelehrsamkeit. Er beklagte, kaum jemand antreffen zu können, mit dem man sich über wissenschaftliche Themen unterhalten konnte.(8) Nach seiner Vorstellung sollte eine Residenzstadt nicht nur erfolgreich durch blühenden Handel und Gewerbe, sondern auch der Ort einer Universität sein. 1737 war dann eine Universität gegründet worden, lange nach seinem Ableben – nur eben in Göttingen.

Unter solchen Umständen wird es bei der Suche nach den Naturkundigen in Hannover weniger darum gehen, Personen ausfindig zu machen, welche die Naturwissenschaften hier forschend vorangetrieben hatten, sondern eher darum, wie sie das, was anderswo erdacht oder erfunden wurde, hier nachgedacht und angewendet hatten.

Ihre Anzahl war überschaubar. Sie sind derjenigen gesellschaftlichen Schicht zuzuordnen, die Bücher lasen, Münzen, Bilder und allerlei Kuriositäten sammelten, und ihre Söhne zum Studium nach Leyden oder Göttingen schickten. Bei den Juristen, Pastoren und Konsistorialräten, Ärzten, Apothekern und später bei den Kaufleuten und Gymnasiallehrern muss man sie suchen. Die einen hatten ein den Naturwissenschaften eher fern liegendes Fach studiert, wie die Pastoren und Advokaten, oder sich intensiver zur Vorbereitung ihres Berufes mit ihnen befasst wie die Ärzte oder Apotheker.(9)

Friedrich Karl von Hardenberg, ein Liebhaber und Kenner der Gartenkunst, der Physik und Astronomie, beklagte jedoch die mangelhafte naturwissenschaftliche Bildung beim Adel.(10)

Ein intellektuelles Zentrum von überregionaler Bedeutung war Hannover eher nicht. Gleichwohl urteilte Spilcker zu Beginn des nachfolgenden Jahrhunderts über die hannoverschen Bildungsbürger mit naturwissenschaftlichen Interessen, dass nur "wenige Städte von dem Umfange Hannovers eine so allgemeine wissenschaftliche Bildung aufweisen" können.

Die hannöverschen Bildungsbürger hatten gute Kontakte. Göttinger Gelehrte gingen in Hannover aus und ein. Albrecht von Haller machte Besuche bei den Ärzten Werlhof und von Hugo, und ließ später Hugos Herbar für Göttingen ankaufen. Und Lichtenberg experimentierte in Hannover mit Süßwasserpolypen aus dem Brunnen auf dem Neustädtischen Markt.

Infolge der Personalunion gab es Verbindungen nach England, aber auch zu einer Reihe bekannter Schweizer in Basel, Zürich, Bern und Genf.(11) Albrecht von Haller, der Hofarzt Zimmermann und der „Königlich Großbrittanische und Churfürstlich Braunschweig-Lüneburgische Botaniker“ Friedrich Ehrhart stammten aus der Schweiz. Andreae reiste 1763 in die Schweiz und besuchte Schweizer Aufklärer, der Geheime Kanzleisekretär Friedrich Arnold Klockenbring traf sich 1771 in Zürich mit Johann Caspar Lavater.

Neben versierten Naturforschern gab es im 18. Jahrhundert viele Menschen, die die Naturgeschichte zu ihrem Steckenpferd gemacht hatten. Auch die naturhistorisch Interessierten in Hannover wird man als Amateure bezeichnen dürfen (Abb. 1). In der Geschichte der naturwissenschaftlichen Disziplinen sind ihre Namen höchst selten zu finden, auch wenn die Themen in der Laien-Naturgeschichte und in der gelehrteren Naturgeschichte oft die gleichen waren.

Der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz nahm eine Sonderstellung ein. Von ihm gibt es eine Episode, die zeigt, dass Naturgeschichte gleichzeitig lehrreich und für Liebhaber der Natur unterhaltend sein konnte. Der Gelehrte war von der Einmaligkeit eines jeden Individuums so überzeugt, daß er behauptete, man finde keine zwei gleiche Blätter an einem einzigen Baum. Im Großen Garten versuchte die Hofgesellschaft diese Behauptung durch das Vergleichen von Blättern zu widerlegen (Abb. 2). Leibniz behielt Recht und erinnerte sich in einem Brief vom 31. Oktober 1705 an die Kurfürstin Sophie an diese Bestätigung seiner Monadenlehre.

„Überall gibt es wirkliche Besonderheiten und nirgends eine völlige Gleichförmigkeit. Weder im Großen wie im Kleinen gibt es zwei Stücke Materie, die einander völlig ähnlich wären. Eure Kurfürstliche Hoheit habt dies wohl erkannt, als Ihr den verstorbenen Herrn von Alvensleben im Park von Herrenhausen auffordertet, zwei Blätter zu finden, deren Ähnlichkeit vollkommen wäre, und als er solche nicht fand“.(12)

Unter den späteren Naturkundigen ist der Hofapotheker Johann Gerhard Reinhard Andreae hervorzuheben, der sich auf den Gebieten der Paläontologie und der Chemie spezialisiert hatte. Von ihm gibt eine ganze Reihe von kürzeren oder längeren Beiträgen im Hannoverischen Magazin. Darin ermunterte er seine Leser, sich dem Studium der Natur zu widmen, wozu freilich „fortgesetzte Beobachtung“ und das Lesen der Werke großer Naturforscher erforderlich seien. Auf jeden Fall biete die Naturgeschichte die angenehmste und unschuldigste Beschäftigung für jeden denkenden Kopf.

Anfang des 18.Jahrhunderts standen die Erfolge der mathematischen und messenden Physik im Mittelpunkt des Interesses. Mit Galilei und Newton wurde die Mechanik zur Königin der Naturwissenschaften, doch mit zunehmenden  Fortschritten waren viele Bereiche der mathematisierten Astronomie und Mechanik auch für gebildete Bürger nicht mehr ohne spezielle Studien verständlich. Die Physik im engeren Sinn wurde in der Regel auch nicht zur Naturgeschichte gerechnet, diese galt wohl eher als das weniger anspruchsvolle der naturwissenschaftlichen Fächer.

Nach Zedlers Universal-Enzyklopädie gehört zur Naturgeschichte alles, was sich in der Natur zugetragen und was sie an organischen und anorganischen Produkten hervorgebracht hat. Als Historia naturalis lässt sie sich als die Lehre von den drei Reichen bis in die Antike zurückverfolgen. Und seither behandelte sie das Tierreich, das Pflanzenreich und das Mineralreich. Sie war vielfältig, anschaulich und galt als allgemein verständlich. Worin die  wesentlichen Unterschiede zwischen den Naturkörpern der Drei Reiche bestehen, kann Johann  Friedrich Blumenbachs Handbuch der Naturgeschichte aus dem Jahr 1788 entnommen werden:

„Die Tiere sind belebte und beseelte organisierte Körper, die erstens willkürliche Bewegungen besitzen, und zweitens ihre Nahrungsmittel durch den Mund in den Magen bringen, wo der nahrhafteste Teil davon abgesondert und zur Nutrition verwandt wird. Die Pflanzen sind zwar ebenfalls organisierte Körper, aber bloß belebt, so dass ihnen die willkürliche Bewegung gänzlich mangelt, und zweitens ihren Nahrungssaft durch Wurzeln einsaugen, nicht so wie die Tiere ihre Speisen durch eine besondere einfache Öffnung zu sich nehmen. Die Mineralien endlich sind unbelebte und unorganisierte Körper, die bloß dadurch entstehen, dass einfache feste Teile durch Ansatz von außen zusammengehäuft und miteinander verbunden werden“.(13)

Bis weit in das 18. Jahrhundert herrschte auch die Auffassung, dass Gott seine belebten und unbelebten Naturschöpfungen nicht in drei voneinander getrennten Reichen, sondern linear wie in einer Kette oder Leiter angeordnet habe. Irgendwo gingen die unbelebten Mineralien über in das Reich der Pflanzen und dieses in das Tierreich, das mit dem Menschen endete.(14) Wer so dachte, für den stellten fleischfressende Pflanzen wie der Sonnentau, der sich von kleinen Insekten ernährte, die Mimosen, die auf Berührungsreize reagierten, und ganz besonders die Süßwasserpolypen einen Gegenstand unendlicher Diskussionen dar.

Manche der bis drei Zentimeter langen Polypen sind grün wie Pflanzen, meist ortsfest wie Pflanzen und sie bilden Knospen wie Pflanzen, aber sie bewegen sich und fressen wie Tiere. Könnten sie da nicht eine Brücke zwischen dem Tier- und dem Pflanzenreich darstellen? Leibniz konnte sich das gut vorstellen:

„So sind auch die Menschen mit den Tieren verbunden, diese mit den Pflanzen (...), welche ihrerseits sich an die Körper anschließen, die unsere Sinne und und unsere Vorstellung uns als tot und unbelebt darbieten (...). Die Annahme von Zoophyten oder Pflanzentieren (...) ist ganz in Übereinstimmung mit der natürlichen Ordnung“.(15)

Das 18. Jahrhundert war eine Zeit enormer Wissensvermehrung und in allen drei Reichen gab es eine Flut von Neuentdeckungen. Forschungsreisende fanden während aufopferungsvoller Reisen immer neue Pflanzen und Tiere, aufmerksame Bergleute sammelten neue Mineralien auf und Varietäten der längst bekannten. Enzyklopädien registrierten nur noch mit Mühe das gesamte Wissen der Zeit. Immer weniger konnte man sich mit der Benennung, Aufzählung und Beschreibung begnügen, sondern man brauchte plausible Ordnungssysteme.

Seit den sechziger Jahren war Carl von Linné (1707–1778) mit seinen zweiteiligen Pflanzen- und Tiernamen, mit seinem Sexualsystem zur Bestimmung von Pflanzen auch in Hannover bekannt geworden. Sein System wurde von den hannöverschen Pflanzensammlern sofort angewendet. Carl v. Linné schrieb 1735 in seinen Betrachtungen über die drei Naturreiche, dass sich nur derjenige Naturalist (Naturhistoriker) nennen darf, wer die Teile von Naturkörpern durch Betrachtung gut unterscheidet und sie den drei Abteilungen entsprechend richtig beschreibt und benennt. Ein solcher ist dann ein Steinkundler oder ein Pflanzenkundler oder ein Tierkundler.

Linnés Ordnungssystem forderte von den Naturkundigen, „Ballast“ abzuwerfen. Denn bis dahin gehörten zur Beschreibung eines Lebewesens auch Hinweise darauf, was die Alten dazu sagten und welchen Nutzen es besaß; auch Fabeln, poetische Figuren, heilsgeschichtliche oder heraldische Symbolik wurde hinzugefügt. Linné nannte z. B. die ältere Tierkunde „einen mit Fabeln und Torheiten angefüllten Augiasstall“, zu dessen Reinigung er angetreten sei.(16) Nur mit dem Mineralreich hatte Linné Schwierigkeiten. Am Ende des Jahrhunderts hatte der Ingenieur-Leutenant Georg Lasius für die vielfältigen Harzgesteine ein besseres System entworfen, Jahre bevor er eines der Gründungsmitglieder der Naturhistorischen Gesellschaft wurde.

Auf allegorischen Darstellungen naturkundlicher Liebhabereien wie auf dem Titelkupfer von Martin Frobenius Ledermüllers Mikroskopischer Gemüths- und Augen-Ergoezung fangen Genien (Putten) Schmetterlinge und Frösche, sie untersuchen Tümpelwasser und allerlei Winzigkeiten mit Lupe und Mikroskop, sie sammeln Pflanzen und beschäftigen sich mit Naturkundebüchern – und die Szene wird überstrahlt vom Licht der Aufklärung (Abb. 3). Die kleine aufgeklärte Gesellschaft tut das, was Liebhaber der Naturkunde im 18. Jahrhundert auch in Hannover taten:  Sie lasen, sie sammelten, sie machten kurze Ausflüge oder längere Reisen – und manche schrieben auch. Dabei war ihnen Leibniz sicherlich ein Vorbild gewesen.

Es gab ein lesendes Publikum in Hannover, dessen Bücherschätze vielleicht nicht sehr umfangreich waren, aber alle lasen das Hannoverische Magazin, ein Intelligenzblatt zur Verbreitung neuer Erkenntnisse, zur Nutzbarmachung von Wissen, zum Kampf gegen den Aberglauben  und zur moralischen Aufrüstung der Leser. Wer Neues zur Naturgeschichte erfahren wollte, wurde nicht enttäuscht. Auf jeden Fall besaßen die Herausgeber ein Gespür dafür, was außerhalb Hannovers diskutiert, geschrieben und gedruckt wurde, was sie dann nachdrucken oder worüber sie berichten konnten. Die Leser wollten informiert sein über die Fortschritte in den Wissenschaften und über diejenigen Ansichten, über die noch gestritten wurde.

Der Königlich Großbrittanische und Churfürstlich Braunschweig-Lüneburgische Hofbotanicus Friedrich Ehrhart publizierte öfter im Hannoverischen Magazin, aber am Ende des Jahrhunderts gab er selbst eine Zeitschrift heraus, eine Fachzeitschrift. Seine „Beiträge zur Naturkunde und den damit verwandten Wissenschaften“ erschienen von 1786 bis 1792 in bemerkenswerten sieben Jahrgängen. Jeden der sieben Bände widmete er sechs auswärtigen Naturwissenschaftlern, die er schätzte, und mit dem einen oder anderen korrespondierte er auch.

Zu einer naturwissenschaftlichen Bibliothek gehörte in der Regel ein Naturalienkabinett. In Hannover gab es im 18. Jahrhunderts etliche, Sammlungen angefüllt mit ausgestopften Vögeln, mit auf Nadeln gespießten Käfern und Schmetterlingen, mit Mineralien, Fossilien und gepressten und getrockneten Pflanzen.  Ausführliche Auskunft über die naturgeschichtliche Sammelleidenschaft im Kurfürstentum ist D. E. Barings „Museographia“ (1744) zu entnehmen.(17)

In der Raritätenkammer des Abts von Loccum und Direktors des Konsistoriums zu Hannover Gerhard Walter Molanus (1633–1722) befanden sich bemalte Straußeneier, ein geschnitzter Krug aus Elfenbein, eine getrocknete Tarantel, zwei Stück der „Rose von Jericho“, "ein monströs haarichtes Gewächs, Allraun gennannt", 14 Stück schwarze und weiße versteinerte Schlangen- und Natternzungen, die bei Lüneburg gefunden worden waren. Das alles erinnert noch sehr an die Wunderkammern des 17. Jahrhunderts, allerdings mit einem Überwiegen der Naturalia, die zwar gesucht, aber erschwinglicher waren als Kunstwerke oder handwerkliche Meisterstücke. Von der „Rose von Jericho“ wusste der Abt vielleicht zu erzählen, dass ein Sünder, der zu einer Wallfahrt nach Jerusalem verurteilt war, diese als Beweis dafür vorzeigen musste, dass er wirklich dort war. Und von den Schlangenzungen  wird er gewusst haben, dass der bedauerlicherweise zum Katholizismus konvertierte Niels Stensen, den man später als Apostolischen Vikar nach Hannover gesandt hatte, diese bei der Sektion des Schädels eines Weißen Haies in Florenz als fossile Haifischzähne erkannt hatte, und dass Leibniz schon vor Jahrzehnten auf diese Entdeckung aufmerksam gemacht hatte.

Das Sammeln von Naturgegenständen war zu einer Mode geworden. Es gab zahlreiche und sehr unterschiedliche Naturalienkabinette in der Stadt, das Kabinett des Leibchirurgus Lampe, das Naturalien-Cabinet des Commissärs Ramberg, die Wilhelmische Vogel-Sammlung, das Kabinett des Apothekers Gruner, die Reußmannschen Sammlungen, die Käfersammlung des Hofmusikers Herschel, die Insecten-Sammlung des Musicus Cramer.(18) Und man darf davon ausgehen, daß die begeisterten Sammler ihre Schätze interessierten Besuchern gern vorführten, wenn diese ein gewisses naturgeschichtliches Interesse zeigten.

Der Hofapotheker Andreae besaß eine Reihe naturgeschichtlicher Sammlungen, darunter ein Herbarium, eine Samensammlung und eine Hölzersammlung. Fossilien suchte er bei Gehrden, Wettbergen und am Stemmer Berg. Dabei war er nicht allein. Über den Fossilienfundplatz Lindener Berg meint er:

„Der Lindener Berg, welcher in allen Nachrichten als ein sehr ergiebiger Ort von Versteinerungen angemerkt wird, ist durch die fleißigen Besuche von Liebhabern so leer geworden, dass sich jetzto wenig oder nichts auf demselben findet“.(19)

Besonders beliebt war das Botanisieren, das Pflanzensammeln. Doch ob am Anfang der hanoverschen Pflanzensammler die Kurfürstin Sophie von der Pfalz stand, ist nicht bekannt. Sie sammelte aber Pflanzen, ein umfangreiches Bündel Herbarbögen wird in der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek bis heute aufbewahrt. Später gab es im Hannoverischen Magazin Anleitungen für andere Pflanzenliebhaber, wie man Pflanzen für ein Herbarium trocknet und presst.

Wer sammelt und Listen von Naturgegenständen anlegt, den drängt es zu Vollständigkeit.

Der Kammerschreiber Johann Heinrich Redecker (1682–1764) widmete ein Kapitel in seiner Stadtchronik allen Tieren und Pflanzen der Eilenriede. Andreae erhielt, den Auftrag, alle Bodenarten im Kurfürstentum zu beschreiben. 1769 erschien sein Buch darüber und wurde über Jahrzehnte hoch geschätzt. Eine Liste der chemischen Eigenschaften des Wassers aller Brunnen und der Leine in der Stadt hatte er bereits zehn Jahre zuvor vorgelegt. Andreaes Wasseruntersuchungen machten einen größeren Aufwand an Gerät erforderlich. Er trug wohl, wenn er Wasser untersuchen wollte, ein Probierkabinett mit sich, ein Kästchen mit den dafür erforderlichen Reagenzien. Und alle Pflanzen im Kurfürstentum sollte schließlich Friedrich Ehrhart in einer Flora hannoverana darstellen. Sie wurde zwar nicht fertig, aber von den heute bekannten fast 1800 Blütenpflanzen in Niedersachsen hatte er damals schon die Hälfte aufgespürt und nach Linnés Anweisung beschrieben.

Gärtner wurden auf Reisen geschickt, um in der „Kunst und Wissenschaft der Gärtnerey“ voranzukommen. Junge Männer aus adeligen Kreisen machten eine Kavaliersreise. Andere, die es sich leisten konnten machten Bildungsreisen wie der hannoversche Hofapotheker Johann Gerhard Reinhard Andreae im Jahr 1763 in die Schweiz und 1769 „ins Lauensteinische“.(20) Im Süden des Kurfürstentums wollte er sich über Landwirtschaft, Bergbautechnik und Industrie, die Steinkohlegruben und Glasmacherei in Osterwald und die Töpferei in Duingen informieren; aber auch die Fossilien von Marienhagen und die Höhle des sagenhaften Räubers Lippold standen auf seinem Reiseplan. In erster Linie interessierte er sich für Technisches, für das volkswirtschaftlich bedeutsame Manufakturwesen, doch er machte sich auch über die Menschen Gedanken, die er unterwegs traf, und berichtete darüber im Hannoverischen Magazin.

Die Beschäftigung mit Tieren, Pflanzen und Mineralien war für die Naturkundigen in Hannover sicherlich und vor allem eine Quelle ganz persönlicher Zufriedenheit. Doch durch Anstrengung des Verstands mussten Erklärungen gefunden werden, für das, was man beobachtet und gesammelt hatte und auf Reisen vorgeführt bekam.

Beim Bemühen um Erklärungen naturgeschichtlicher Phänomene bestand ein nicht geringes Problem darin, mit den Aussagen der Bibel bzw. mit der geltenden Auslegung in der kirchlichen Lehre nicht in Konflikt zu geraten. Dies galt besonders für die biblische Erzählung von der Sintflut und die Schöpfungsgeschichte.

Viele Fragen, die im 18. Jahrhundert gestellt wurden, sind noch heute aktuell, freilich auf einer weiter entwickelten Wissensbasis: Was sind Merkmale des Lebens? Wie unterscheiden sich Ernährung, Fortpflanzung und  Bewegung bei Pflanzen und Tieren? Wie entstehen Krankheiten? Albrecht von Haller hatte in Göttingen (1753) darauf hingewiesen, dass die Sensibilität der Nervenfasern und die Kontraktibilität der Muskelfasern als Eigenschaften des Lebens von Tieren und Menschen zu bezeichnen sind. Empfindsamkeit, Erregbarket und Entwicklung wurden zu Begriffen des späten 18. Jahhunderts, über die man immer wieder diskutierte – auch in Hannover.

Ein Gegenstand besonderen Interesses war die Entwicklungsgeschichte und die Länge der Zeit, die belebte wie unbelebte Gegenstände auf dem Schauplatz der Natur zu ihrer Entstehung benötigen. Georg Christoph Lichtenberg aus Göttingen hatte in Hannover mit Süßwasserpolypen experimentiert, die er im Brunnen auf dem Neustädter Kirchplatz und im Stadtgraben vor dem Aegidientor gefunden hatte. Wenn er diese Tiere auseinanderschnitt, so starben sie nicht, sondernm wuchsen wieder zusammen, und sie ergänzten sogar die Teile, die ihnen abhanden gekommen waren.

Auch Andreae beschäftigte sich mit Polypen. Er erkannte an der Nahrungsaufnahme, dass es sich bei ihnen um Tiere und auf keinen Fall um Pflanzen handelte. Doch als er sah, dass sie sich ungeschlechtlich – ohne Eier und Spermien, allein durch Knospen – fortpflanzten, war er zunächst ratlos, beruhigte sich dann aber mit dem Hinweis auf den freien Willen des Schöpfers: Warum hätte es Gott nicht gefallen können, es bei diesen Tieren anders zu machen als bei allen anderen?

Etwa zur gleichen Zeit bemerkte Immanuel Kant in Königsberg – ohne natürlich von Andreae zu wissen –, dass solches Argumentieren „unter dem Schein religiöser Andacht“ ein Zeichen wissenschaftlicher Faulheit sei. Es würde Naturforschung unmöglich machen, wollte man Naturerscheinungen aus unmittelbaren göttlichen Eingriffen erklären.

Eine Erklärung für das, was er sah, fand Andreae in der verbreiteten Vermutung, dass in den Knospen bereits kleine Polypen angelegt seien, die dann zu Tochterpolypen heranwachsen. Diese so genannte Praeformationslehre besagt, dass Gott alle Generationen von Organismen, die er bis zum Ende der Zeit vorgesehen hatte, bereits bei der Schöpfung erschaffen hatte. Sie sind ineinander geschachtelt und in jeder Generation wird der Organismus „aus seiner Verpackung ausgewickelt“, der nach dem Schöpfungsplan „dran“ ist. Erst als man in Eiern und frühen Keimen solche präformierten Organismen nicht finden konnte, musste man annehmen, dass die Lebewesen aus einer undifferenzierten Keimsubstanz sukzessive - durch Epigenese - entstehen.

Es war ein Grundgedanke der Aufklärung, daß Vernunft das eigentliche Wesen des Menschen ausmacht und auch Maßstab für sein Handeln sein sollte. Diese Vorstellung hinterließ in allen Bereichen des sozialen und kulturellen Lebens tiefgreifende Wirkungen. Durch Aufklärung sollte eine Erneuerung des persönlichen wie des gesellschaftlichen Lebens erreicht werden. Und viele Aufklärer waren zutiefst von der Möglichkeit einer solchen Erneuerung überzeugt.

An einem Tag im Monat August 1763 hielt sich Andreae auf seiner Reise in die Schweiz zum wiederholten Mal im Naturalienkabinett des Professors Johannes Gessner in Zürich auf. Dieses Mal diskutierte er mit Gessner über das wohl berühmteste Fossil der Schweiz, über die versteinerten Reste eines Menschen aus der Sintflut nämlich. Dieser Homo diluvii testis stammte aus den Schiefern von Oeningen am Bodensee und war von Johann Jacob Scheuchzer (1672–1733) „im Jahre 4032 nach der Sintflut“ mit einem Holzschnitt bekannt gemacht worden. Die Unterhaltung zwischen Gessner und Andreae war von Zweifeln geprägt, und Andreae sprach voller Skepsis von einem „sein sollenden Anthropolith“, einem versteinerten Menschenrest also, bei dem es sich seiner Meinung nach allenfalls um einen Fisch handeln könne. Später erkannte Cuvier, dass das Fossil von einem großen Salamander stammte. Gessner und Andreae zweifelten zwar an Scheuchzers  systematischer Zuordnung des Fossils, aber  nicht an der Sintflut und auch nicht daran, dass diese erst gute 4000 Jahre hinter ihnen lag.

Andreae hielt wie viele seiner Zeitgenossen Fossilien für Reste von gestorbenen, aber nicht unbedingt von ausgestorbenen Tieren. Denn um die Mitte des 18. Jahrhunderts war es eine durchaus noch ungelöste Frage, ob es denn überhaupt denkbar sei, dass Gott Lebewesen seiner Schöpfung aussterben lassen kann, die er doch alle für gut gelungen befunden hatte. Und wenn man so dachte, so ist auch die Annahme  nicht ganz von der Hand zu weisen, dass in der Eilenriede noch lebende Ammoniten zu finden sein könnten:

„Hinter der Ellerie neben dem Stührendeif ist ein kleiner Graben (...). Ich habe daselbst eine Menge kleiner Erdschnecken gesamlet, welche mit Recht natürliche Cornua ammonis (Ammonshörner) könnten genant werden, weil sie am Gebäude den versteinerten nichts nachgaben“.(21)

Damals wussten die Menschen nicht, dass die Ammoniten vor 70 Millionen Jahren ausgestorben sind. Sie verfügten nicht über einen Zeitbegriff, in dem mit Millionen und Milliarden Jahren gerechnet wird.(22) In den Hannoverischen Gelehrten Anzeigen konnten sie über das Alter der Erde lesen:

„Zuletzt muss ich gestehen, dass meine Vernunft nicht das mindeste Widrige in dem Satz findet, die ganze Welt ist erst vor ohngefähr 6000 Jahren erschaffen worden“.(23)

Wer Naturgeschichte betrieb, konnte dies aus unterschiedlichen Motiven tun. Naturgeschichte sollte auch für etwas gut sein – auch gut für Hannover. Durch naturgeschichtliches Forschen sollte auch Neues gefunden werden, mit dem man etwas anfangen konnte. Das Motto der hannoverschen „Nützlichen Nachrichten“ lautete Pro Bono Publico (Abb. 4). Der Fortschritt in den Naturwissenschaften sollte dem gemeinen Nutzen dienen. Nützlichkeit war ein zentrales Anliegen des Jahrhunderts.

Nützlich konnten auch sehr einfache Empfehlungen sein. Das Hannoverische Magazin brachte gelegentlich Rezepte, die den Haushalten helfen sollten, in schwierigen Zeiten – in den Hungerjahren zu Beginn der siebziger Jahre zum Beispiel - über die Runden zu kommen. Das bezweckte auch ein „Schreiben den Nutzen der Erdäpfel oder Ertuffeln betreffend“.(24) Die Menschen sollten es auch einmal mit Märkischen Rübchen“ oder „Sibirischem Buchweizen“ versuchen, waren zwei der vielen Vorschläge Andreaes. Manche Vorschläge wurden realisiert: Die Cellische Landwirtschaftsgesellschaft wurde gegründet, und am Ende des Jahrhunderts wurde ein Getreidespeicher gebaut, in dem Brotkorn für Notjahre bereitgehalten wurde.

Nach dem täglichen Brot war die Gesundheit der Bevölkerung ein besonders dringliches Anliegen. Gesundheit war ein wesentlicher Faktor in einem gut funktionierenden Staat. In Hannover gab es immer wieder Pockenepidemien. 1766 war ein Blatternjahr. Da hatte man schon seit den zwanziger Jahren über die Einführung der Inokulation, eine wirksame Schutzimpfung nachgedacht.

Und Hannover konnte man im 18. Jahrhundert nicht als gesunde Stadt bezeichnen, denn mit der Hygiene und dem Gesundheitsbewußtsein der Hannoveraner scheint es nicht weit her gewesen zu sein. Als Johann Georg Zimmermann als Erster Leibarzt nach Hannover berufen worden war, schrieb er bald nach seiner Ankunft 1768 an seine Verwandten in der Schweiz:

„Es sterben hier in Hannover an der Schwindsucht mehr Leute in einem Jahre, als vielleicht in gleicher Zeit in der ganzen Schweiz. Die Luft ist hier sehr ungesund“.(25)

Und im übrigen hatte der Hofarzt wenig Vertrauen in die Heilkünste seiner Kollegen in der Stadt.

Als ungesund galten die in der Nähe der Stadt häufigen Feuchtgebiete, deren Dünste mit dem Atem oder mit Speise und Trank in den menschlichen Körper gebracht und dort allerlei Krankheiten hervorufen würden. Damit ist einiges über damalige Infektionstheorien angedeutet, welche die heutigen Bemühungen zur Erhaltung von Feuchtgebieten als ganz widersinnig erscheinen lassen, die aber im 18. Jahrhundert nur in der Forderung nach ihrer Beseitigung gipfeln konnten.

Hannover war keine sehr saubere Stadt. Die Viehhaltung ging zwar langsam zurück, aber es wurden immer noch jeden Morgen Herden von Kühen, Schafen und Schweinen auf die städtischen Weiden getrieben. Das Straßenpflaster verschwand oft unter Dreck und Kot. Manche Bürger schütteten Kehricht, Asche, Scherben, Bauschutt, Mist und Jauche auf die Straße, ohne die Zeit der Abfuhr abzuwarten. Unzulänglich war die Entsorgung des Abwassers, das ungeklärt durch den Kotgraben in die Leine geleitet wurde.(26)

Auch die Wohnungen der Hannoveraner, vor allem der ärmeren Bevölkerungsschichten, dürften nicht sehr gesund gewesen sein.

„Viele Leute ziehen sich dadurch allerhand Ungesundheit zu, daß die in beständigem Schmutz und Unreinigkeit leben, sowohl in Kleidern, Betten, Wäsche, Hausrath, als sonst in den Stuben und Häusern (...). Dadurch wird nicht allein viel Ungeziefer, Krätze, Grind und andere Hautschäden erzeugt, vermehrt und verschlimmert; sondern die entstehenden unreinen Dünste dringen zugleich in den Leib, verunreinigen und verderben den Nahrungssaft und das Blut. Es ist dennoch ein nöthiges Stück zur Gesundheit, daß man für die Reinlichkeit alle mögliche Sorgfalt trage“.(27)

Wie man sich im Falle einer Krankheit zu verhalten hat, das sollten schon Kinder lernen. Sie lasen zum Beispiel Fibelgeschichten, in denen drastisch vor Kurpfuschern gewarnt wurde, und durch die sie aufgefordert wurden, zu einem studierten Doktor zu gehen - später einmal natürlich.(28)

„Gebe er mir doch etwas gegen das Fieber, sprach ein Bauer, zum Scharfrichter. Geht zum Apotheker, sprach dieser. Ich kann wol Köpfe abschlagen, auch allenfalls eine Kuh oder ein Pferd curiren, aber keine Menschen. Der Bauer ging zum Apotheker und sprach wiederum: Gebe er mir etwas gegen das Fieber. Der Apotheker antwortete: Ich mache die Arznei, und handle damit, aber verordnen kann ich sie nicht. Geht zum Doctor! Der Bauer freute sich, zu ehrlichen Leuten gekommen zu seyn, und ging nun zum Doctor. Dieser fand eine ganz andre Krankheit bei ihm als ein bloßes Fieber, und gab ihm Mittel, und heilte ihn von Grund aus. Er wurde nun lange nicht krank, und starb in hohem Alter“.(29)

Die Aufklärung erfaßte alle Bereiche des Denkens und Lebens. In der Theologie versuchte man die Existenz Gottes mit den Mitteln der Vernunft zu beweisen. Naturerkenntnis muß – so dachten viele – nicht zur Leugnung Gottes führen, sondern kann eine Brücke von naturwissenschaftlicher zu christlicher Wahrheit sein.(30) Dahinter verbarg sich die „Lehre von den zwei Büchern“, nach der sich Gott sowohl in der Heiligen Schrift wie auch in den Werken seiner Schöpfung offenbaren kann.

Die Physiko-Theologie stellte eine charakteristische Variante der Theologie in der Aufklärungszeit dar (Abb. 5 und 6). Viele Naturforscher des 17./18.Jahrhunderts entdeckten Gottes Schöpferkraft am Sternenhimmel (Makrokosmos) wie in den Organismen, die das Mikroskop sichtbar machte (Mikrokosmos). Bereits im 17. Jh. war Scheuchzers Physica sacra erschienen, Sturm schrieb Betrachtungen über die Werke Gottes in der Natur (1779 übersetzt), Jan Swammerdam (1637–1680) wählte für sein anatomisches Hauptwerk den Titel Biblia Naturae, Hermann Samuel Reimarus (1694-1768) schrieb über „Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion“. Damals entstanden zahlreiche „Bindestrich-Theologien“: Pflanzen-Theologie, Insecto-Theologia, Litho-Theologia, Hydro-Theologia und Pyro-Theologie, eine Naturtheologie des Feuers und viele andere.(31)

Die Hannoveraner konnten in den Hannoverischen Gelehrten Anzeigen lesen:

„Warum soll also der kleinste seinen Schöpfer eben so sehr verherrlichende Wurm nicht eben sowohl als ein größeres Tier angemerkt zu werden verdienen? Die Blattläuse sind eins der kleinsten und unansehnlichsten Arten Tiere; ihre besondere Haushaltung, ihre wunderbare Vermehrung und der Schaden, welchen sie verursachen, machen sie jedoch vor anderen merkwürdig. (...) Ist nicht die Regierungsform der Bienen eines der wundernswürdigsten Stücke in der Natur? Ja, wenn man die besonderen Eigenschaften, die schöne Gestalt, die wundernswürdige Bildung, die vortrefflichen Farben von so vielen Tieren erst einmal zu betrachten angefangen hat, so bemerkt man immer noch mehr neues, das einen in Entzückung setzt und die höchste Weisheit bewundern macht“.(32)

Naturgeschichte im 18. Jahrhundert ist ohne diesen physikotheologischen Impuls nicht zu verstehen und war ohne ihn großenteils gar nicht möglich. Viele Physiko-Theologen trugen als Naturforscher zur Popularisierung der Naturgeschichte bei, und ihr Einfluß auf die zeitgenössische Kinderliteratur war beträchtlich. Aufgrund ihrer Argumente war es möglich, naturgeschichtlichen Unterricht allmählich in den Schulen durchzusetzten. Der Apotheker Andreae meinte, dass ein Schulmeister immer ein paar Fossilien zur Hand haben sollte, fossile Muschelschalen zum Beispiel, denn die ließen sich im Unterricht sogar für die religiöse Unterweisung verwenden. Der Lehrer sollte zu den Kindern etwa so sprechen:

„Diese Muschelschalen sind vorher von lebendigen Seetieren bewohnt gewesen. Und wie sind sie hierher gekommen? Die See muss sie gebracht haben, denn auf trockenem Boden können sie nicht geschwommen sein. Zu welcher Zeit ist nun eine See über die ganze Erde gegangen?“
Hier wird ein Junge, wenn er ein wenig gewitzt ist, antworten:
„Bei der Sündflut“.
Nun könnte der Schulmeister sagen:
„Siehe, hier hast du eine Bestätigung von dem, was in der Bibel gemeldet wirdt“.
(33)

Eine Notiz in den Nützlichen Nachrichten vom 18.Februar 1756 lautete:

„Am vorigen Mittwoch, dem 18. dieses Monats, ist hier in Hannover, des Morgens kurz vor halb neun von sehr vielen Leuten eine gelinde Erderschütterung bemerket (worden), wodurch jedoch - Gott Lob! - gar kein Schade verursachet ist. (...) Die Musiker auf hiesigem Stadtturme sind sehr stark hin und her gewieget worden, und das Holz oben im Turme hat geknacket“.

Das war ein Vierteljahr nach der Katastrophe von Lissabon, als diese Stadt durch ein Erdbeben, einen Tsunami und eine Feuersbrunst innerhalb kürzester Zeit vernichtet wurde und 30.000 Menschen ihre Leben verloren.

In den hannoverschen Nützlichen Sammlungen gab es in den folgenden Jahren  einiges über Erdbeben zu lesen, das meiste eher nüchtern und ohne Hohn über Leibniz' „beste aller Welten“. Aber es fehlte nicht der Hinweis auf die Macht Gottes ab, der solche gewaltigen Kräfte freisetzt, und dass so ein Erdbeben auch als göttliches Strafgericht verstanden werden kann.(34)

Und es gab Anlass, junge Leute zu warnen, solche Naturkatastrophen frivol auf die leichte Schulter zu nehmen, prahlte da doch einer:

„A wat! Wei dei Physek versteit, dei förchtet sek vor kennen Düfel un vor kein Erdbefen. Wei wol sek davor förchten? Parblö! Et is ja alles natürlek!“(35)

Anrührend waren dann jedoch die Augenzeugenberichte aus dem Jahr 1755, die ein Vierteljahrhundert später (1779) im Hannoverischen Magazin abgedruckt waren. In ihnen kam auch das Leid der Menschen während der Katatstrophe zur Sprache, von denen zwar viele in Verzweiflung versanken, während andere mit gelassener Ruhe über Hilfe und Rettung des noch Vorhandenen und den Wiederaufbau nachdachten.(36)

Daraus sollte gelernt werden, dass trotz Erfahrung und aufgeklärter Vernunft die Menschen die Gewalten der Natur zwar immer noch fürchten müssen, doch indem sie ihre Gesetze kennen, können sie durch vorausschauendes Handeln Schaden wenigstens teilweise von sich wenden.

Wir wissen, dass Erdbeben bis heute nicht voraussagbar sind.

Als Andreae seine Reise ins Lauensteinische unternahm, war er vor allem an Naturwissenschaft und Technik interessiert, aber ihn bewegte auch das Schicksal der Menschen dort. Er berichtet von einem Bauern, den ein Unwetter ruiniert hatte, und von den Bergleuten, die sich in den Kohlengruben im Osterwald abmühten:

„Nichts kann beschwerlicher sein als die Arbeit, die Kohlen auszuhauen. (...) Welch ein Los, sich zu einer so harten und traurigen Arbeit auf vielleicht lebenslang verdammt zu sehen! Doch dabei glücklicher vielleicht  und zufriedener als mancher reicher Müßiggänger, dessen Kamin oder Ofen von dem Schweiße des armen Kohlengräbers glüht, der ihm ein sehr niedriges Geschöpf scheint, obgleich er nicht weniger Mensch und ein nützlicheres Mitglied des gemeinen Wesens ist als er. - Allein, es war ja nicht meine Absicht zu predigen, ich will mich also lieber wieder zurück in den Stollen begeben“.(37)

Damit stellte der Hofapotheker der nüchternen Beschreibung der Technik menschenfreundliche Gesichtspunkte gegenüber, etwas gewunden sicherlich, christlich motiviertes Mitleid verknüpft mit Gedanken Rousseaus, mit dem er sich auseinander gesetzt hatte.

Gegen Ende des Jahrhunderts beurteilten die Menschen zunehmend kritisch die Hoffnungen, die ein aufgeklärter Optimismus zu verbreiten versucht hatte. Es kamen Zweifel auf an den Möglichkeiten der Naturbeherrschung und was die Naturgeschichte dazu beitragen könnte.

Die spießige Betriebsamkeit mancher Naturkundiger forderte sogar Spott heraus (Abb. 7). Warnungen vor „übertriebener Aufklärung“ gab es reichlich, denn es waren Aufklärer, die letzten Endes die Programme formuliert hatten, welche zur Französichen Revolution geführt hatten. Und hatte der begabte Georg Forster, der zwar kein Hannoveraner war, aber so wunderbare Reisebücher geschrieben hatte, sich durch sein Jakobinertum nicht selbst ins Unglück gestürzt?

Das 18. Jahrhundert endete mit dem Schock, den die französische Revolution ausgelöst hatte.

Wolf Lepenies spricht in einem viel zitierten Buch vom „Ende der Naturgeschichte“. Da war das Denkbild von der Kette der Wesen schon aufgebrochen und Physikotheologie ins Gerede gekommen. In der neuen Biologie und Geologie, die aus der Naturgeschichte hervorging, entstand allmählich ein anderes Verständnis von der Länge der Zeit, für die Zeiträume, die es dauerte, bis diese Tierart oder jenes Gebirge entstehen konnte. Aus der Naturgeschichte konnte eine Geschichte der Natur werden. Die klassische Naturgeschichte blieb zwar noch bis weit in das 19. Jahrhundert lebendig, auch in der Naturhistorischen Gesellschaft. Doch dann waren es vor allem die technischen und kaufmännischen Begabungen vieler Bürger, die Hannover im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer Industrie- und Großstadt machten.

 

Fußnoten

(1) Festvortrag anlässlich des 210. Gründungsjahres der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover.
(2) Der Kultur des naturgeschichtlichen Wissens im 18. Jahrhundert war 2006 eine Tagung der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des 18.Jahrhunderts in der Herzog-August-Bibliothek zu Wolfenbüttel gewidmet.
(3) Gelegentlich werden auch die Bezeichnungen „Naturkündiger“ oder „Naturalisten“ verwendet.
(4) Zit. n. Rischbieter 1975; 163.
(5) Brandes 1789/90 zit. n. Rischbieter 1975; 148. Vgl. dazu Wanner 1913; 131: „Und auch als Georg I. den englischen Thron bestieg, blieb ein Hofstaat in Hannover zurück, der sich bemühte ein getreues Abbild des Hofes von Versailles zu sein“.
(6) Haase 1973.
(7) Haase 1973; 6.
(8) Müller, K. / Krönert, G. 1969.
(9) „Es blieben mithin für den Dienst der Künste und der Musen nur die Mitglieder der zweiten und dritten Gesellschaftsklasse übrig, die ,hübschen Familien', die Kreise der studierten Sekretäre einerseits und andererseits die Welt der besseren Kaufleute, der Ärzte, Apotheker und Advokaten.“ (Rothert 1916; 327). Naturwissenschaftlich interessierte Personen waren u.a.: Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), der Hofapotheker Johann Gerhard Reinhard Andreae (1724–1793), der Mitbegründer der Cellischen Landwirtschaftsgesellschaft Jobst von Hinüber, der Arzt August Johann von Hugo (1686–1760), der Gartenmeister Johann Christoph Wendland (1755–1828) und am Ende des Jahrhunderts die Gründungsmitglieder der Naturhistorischen Gesellschaft von 1797 (Knoll 2007).
(10) Klausa 1990.
(11) Knoll 2006.
(12) Popp/Stein 2000; 22.
(13) Blumenbach 1788; 5. Das Zitat ist dem heutigen Sprachgebrauch geringfügig angepasst.
(14) Dazu vor allem Lovejoy 1993.
(15) nach Lovejoy 1993; 177.
(16) nach Lepenies 1976; 115.
(17) Museographia Brunsvico-Lunebergica oder Curiöse Nachricht von denen Museis, Schatz- Kunst- und Raritäten-Cammern, so curiose Herren in den Braunschweig-Lüneburgischen Landen gesammlet und grösten Theils noch heutiges Tages in denenselben aufbehalten werden.
(18) Lohmann 1818; 129ff, Spilcker 1819, Oberschelp 1982.
(19) Nützliche Sammlungen 1758, 80. Stück; Sp.1266.
(20) Vgl. Knoll 2006 über Andreaes Reise in die Schweiz und den anonymen Artikel über die Reise ins Lauensteinische (Hannoverisches Magazin 1774, 45., 46. und 50. Stück).
(21) Anonymus in Nützliche Sammlungen 1758, 80. Stück; 1270.
(22) dazu Flügel 2004.
(23) C. F. Meyer in den Hannoverischen Gelehrten Anzeigen 1753, 47. Stück; 689.
(24) Hannoverische Gelehrte Anzeigen 1754, 11. Stück; Sp. 137–142.
(25) Zit. n. Rischbieter 1975 (Bd. 1); 100.
(26) Müller 1988; 41. Oberschelp 1983.
(27) Müller 1968.
(28) Es gab noch viele Menschen, die ein volkstümliches Heilwissen besaßen, Kräuterfrauen und Heilerinnen mit beachtlichen Pflanzenkenntnissen, zu denen die gingen, die sich in ihrer Not einen professionellen Arzt nicht leisten konnten. Diese Personen waren zunehmend unerwünscht, als man daran ging, ein amtlich geordnetes Medizinalsystem zu etablieren.
(29) Der Text stammt von August Ludwig Hoppenstedt (1763–1830), Abt zu Loccum und Vicedirektor des Consistoriums in Hannover. Er hatte „Lieder für die Volksschule“ gesammelt und selbst gedichtet, die seit 1793 in mehreren Auflagen in der Hahn’schen Hofbuchhandlung erschienen waren.
(30) Die Anfänge der Physikotheologie liegen im 17. Jahrhundert, sind aber älter. Mit ihr wurde der Versuch gemacht, den materialistischen und atheistischen Tendenzen der Zeit entgegen zu wirken.  Im 18.Jahrhundert hatte William Derhams „Physico-Theology“ (1713) besondere Bedeutung.
(31) Philipp 1957.
(32) Hannoverische Gelehrte Anzeigen 1753; 59.St.; 879.
(33) Nützliche Sammlungen 1757, 22. Stück; 348.
(34) Ein anonymer Autor T.M. schrieb relativ ausführlich über Erdbeben in den Nützlichen Sammlungen 1756, 15.–19. Stück; Sp. 225-296. Ferner 1757, 53. Stück; Sp. 545–550.
(35) Nützliche Sammlungen 1756, 20. Stück; Sp. 311 f.
(36) Dem Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert im Zusammenhang mit dem Erdbeben in Lissabon war die Jahrestagung der Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts 2005 in Göttingen gewidmet. Ein Berichtsband wird erwartet.
(37) Im 2. Bericht über die Reise ins Lauensteinische (Hannoverisches Magazin 1770, 47. Stück; 780 ff.).

 

Literatur

Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. Joachim Knoll
Dornhorn 28
30916 Isernhagen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vogelkunde als Liebhaberei (Radierung)

Abb. 1: Vogelkunde als Liebhaberei. Mit dieser Radierung stellte Daniel Chodowiecki einen frühen Vertreter der bis heute bei Amateuren beliebten Ornithologie dar. Mit dem Bild macht er sich auch lustig über den in Schlafrock und Nachtmütze dargestellten Naturfreund, der nicht in freier Natur, sondern in seinen vier Wänden zwischen Büchern und ausgestopften Vögeln seiner Liebhaberei nachgeht (Staatliche Graphische Sammlung München).

 

 

 

 

 

 

Leibniz und Hofgesellschaft

Abb. 2: Leibniz lässt Mitglieder der Hofgesellschaft im Park von Herrenhausen nachprüfen, ob sie an einem Baum zwei völlig gleiche Blätter finden können (nach Popp/Stein 2000).

 

 

 

 

 

 

Naturkundliche Beschäftigungen

Abb. 3: Allegorische Darstellung naturkundlicher Beschäftigungen mit Gegenständen aus den drei Reichen der Natur. Eine Dame verkörpert die alle Bereiche der Naturwissenschaften nährende Aufklärung. Zusätzlich wird die Szene durch ein überirdisches Licht erleuchtet. Aus Martin Frobenius Ledermüllers „Mikroskopischer Gemüths- und Augen -Ergoezung“ von 1762 (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen).

 

 

 

 

 

 

Titelseite Nützliche Sammlungen

Abb. 4: Unter einem programmatischen Titel erschienen in der Mitte des 18. Jahrhunderts die „Nützlichen Nachrichten“, Vorläufer des später über Jahrzehnte erfolgreichen Hannoverischen Magazins. Das Motto „Pro Bono Publico – für das allgemeine Wohl“ entsprach einem wesentlichen Grundsatz der Aufklärungszeit, nützliches Wissen zu verbreiten (Georg Wilhelm Leibniz Bibliothek Hannover).

 

 

 

 

 

 

Titelseite Natur-Leitung

Abb. 5: Titel von William Derhams maßgeblicher Schrift „Physicotheogie oder NaturLeitung zu Gott“ aus dem Jahr 1736 (Herzog Anton Ulrich Bibliothek Wolfenbüttel).

 

 

 

 

 

 

 

Titelkupfer Phyto-Theologica

Abb. 6: Titel und Titelkupfer der „Phyto-Theologia“ (Pflanzen-Theologie) Julius Bernhard von Rohrs (1740). Das Buch ist ein Beispiel für die zahlreichen „Bindestrich-Theologien“ in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Herzog Anton Ulrich Bibliothek Wolfenbüttel)

 

 

 

 

 

 

Natural-Philosophy (Federzeichnung)

Abb. 7: Natural-Philosophy. Die Federzeichnung Johann Heinrich Rambergs aus dem Jahr 1789 karikiert zwei Naturkundige. Einer mikroskopiert, was er einem sezierten Frosch entnommen hat; der andere in Schlafrock und Nachtmütze betrachtet mit einer riesigen Lupe eine Laus oder einen Floh, den ihm ein zerlumpter Junge reicht (nach Forster-Hahn 1963).